„Nur im Team kann die Materialversorgung gesichert werden“

Interview zur Reihe “Einkaufscoaching” mit MBI Einkäufer im Markt

Tanja Dammann-Götsch fordert seit Jahren ein Umdenken im Einkauf der Automobilindustrie: weg vom Preisdrücker, hin zum Partner der Zulieferindustrie. Die Inhaberin des Beratungsunternehmens Purchasing Professional verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung im internationalen Einkauf. Davon über 20 Jahre im Einkauf der Automobilindustrie − dem „härtesten Beschaffungsmarkt der Welt“, wie sie sagt. MBI Einkäufer im Markt sprach mit ihr über die aktuell schwierige Lage auf den industriellen Beschaffungsmärkten und wie der Einkauf damit am besten zurecht kommt.

Einkäufer im Markt: Frau Dammann-Götsch, fühlen Sie sich durch die aktuelle Situation bestätigt?

Tanja Dammann-Götsch: Die aktuellen Engpässe in der Materialversorgung konnte niemand vorhersehen. Holz, Stahl, Kunststoff, Verpackung − egal welche Materialien im Moment benötigt werden: Sie bekommen nichts. Auf einmal finden sich die Einkäufer in nahezu allen produzierenden Branchen in einem harten Verkäufermarkt wieder. Die Nachfrage ist in vielen Sparten sprunghaft angestiegen. Jetzt diktieren die Lieferanten die Preise. Geliefert wird dorthin, wo am meisten bezahlt wird oder wo die engste Kundenbindung besteht. Wer partnerschaftliche, gute Beziehungen zu Lieferanten aufgebaut und gepflegt hat, ist auf so eine Situation vorbereitet. Statt immer dem besten Preis nachzujagen, erzielt der Einkäufer in Kooperation mit dem Lieferanten deutlich bessere Ergebnisse, egal ob in Zeiten der Materialknappheit oder in „normalen“ Zeiten. Er profitiert beispielsweise vom Ideentransfer und optimiert die Planbarkeit. Im Idealfall entwickelt er sich so zum Unternehmensgestalter.

Im Idealfall, sagen Sie. In der Realität sieht es leider oft anders aus.

Ja, was ich gerade beschrieben habe, muss strategisch „von oben“ gewollt sein. Wer das bereits vor der Pandemie umgesetzt hat, genießt jetzt einen gewissen Vorteil gegen- über den Verfechtern des Preisdrückens. Warnsignale gab es für ein solches Umdenken im Einkauf bereits vor Corona. Denn längst konkurrieren Industrieunternehmen und ganze Industrienationen miteinander bei der Beschaffung von Materialien, die für den wachsenden Bedarf an Elektronik benötigt werden. Mikrochips stehen weltweit ganz oben auf den Einkaufs- listen. Die um sich greifenden Hamsterkäufe − bekannt als „Klopapiereffekt“ − verstärken das noch.

Sehen Sie neben den äußeren unvorhergesehenen Umständen, die mit der Pandemie zusammen- hängen, auch hausgemachte Ursachen für die aktuelle Materialknappheit?

Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, unter dem man alle Versäumnisse der letzten Jahre deutlich erkennt. Neben dem „obligatorischen“ Preis- drücken fällt hier noch ein anderes verbreitetes Verhalten beim Materialmanagement ins Gewicht: Wer aus Bequemlichkeit starke Abhängigkeiten eingegangen ist, statt bei Artikeln, die für die Produktion unverzichtbar sind, mindestens zwei weitere alternative Anbieter in petto zu haben, hat jetzt ebenfalls das Nachsehen. Verbreitet ist auch Unkenntnis der Warengruppen und ein Bestellen nach dem Prinzip: „Was man immer schon bestellt hat, kann nicht schaden.“ Wer die Spezifikationen der Warengruppen nicht kennt, kann bei Engpässen nicht nach Ersatzlösungen suchen.
Die Just-in-time-Produktion mit wenig Lagerkapazität zeigt jetzt ebenfalls ihre Kehrseite. Manche Entwicklungen haben sich bereits spätestens im zweiten Quartal des vergangenen Jahres abgezeichnet. Es war absehbar, dass es nach der Pandemie zu Engpässen in der Beschaffung kommen würde. Auch bei schwacher Auftragslage hätte daher die Bevorratung mit den wichtigsten Artikeln stattfinden müssen. Jetzt, wo Aufträge reinkommen, unterliegen die deutschen Unternehmen zunehmend dem Einkaufswettbewerb. Bei einigen Firmen ist die komplette Auslieferung lahmgelegt. Wer schneller aus der Pandemie herauskam − wie China und die USA − kann höhere Preise zahlen, um die eigene Produktion zu sichern. Holz aus Deutschland geht daher auf die Reise, während es vor der Haustür beim Bau, beim Handwerk und in der Industrie fehlt. Meiner Einschätzung nach ist hier auch die Politik sowohl der EU als auch der Bundesregierung gefragt.

Was empfehlen Sie den Einkäufern in der Industrie, um die Materialengpässe in den Griff zu bekommen und die Lieferkette jetzt so schnell wie möglich zu sichern?

Einkäufer stehen vor dem Dilemma: Materialversorgung versus Preiserhöhung. Um hier zu einer guten Lösung zu kommen, muss an mehreren Stell- schrauben gedreht werden. Denn der Einkauf allein kann das Dilemma nicht lösen. Auch das Supply Chain Management ist gefragt. Bestände müssen überprüft und der Ist-Zustand exakt dokumentiert werden. Es hilft, Gespräche mit Fingerspitzengefühl und Verhandlungsgeschick zu führen, sowohl mit Abnehmern als auch mit − wohlgemerkt − allen Lieferanten. Inwieweit Hersteller die gestiegenen Preise weitergeben, lässt sich unter Umständen neu verhandeln und gemeinsam schultern. In Kooperation mit den Partnern aus Handel und Zulieferunternehmen können kreative Lösungen entwickelt werden, die allen zugutekommen.

Sie legen großen Wert auf den Team-Gedanken. Warum?

Der Einkauf muss umdenken: weg vom Mikromanagement und stattdessen mehr dem Team vertrauen. Am besten eignet sich die Beschaffungsabteilung jetzt agile Methoden an, die nicht nur in der aktuellen Krise helfen, sondern grundsätzlich die Arbeit professionalisieren. Im agilen Ein- kauf erhalten Individuen und Interaktion mehr Gewicht als Prozesse und Werkzeuge. Dem Silo-Denken wird aktiv gegengesteuert, abteilungsübergreifende Netz- werke werden gefördert. Führungskräfte vermitteln den Mitarbeitern die Unternehmensziele auf verständliche Weise. Kurze Meetings, flache Hierarchien und eine clevere Software, die den Dokumentationsaufwand verschlankt, gehören ebenfalls dazu.

Hört sich gut an. Aber aktuell haben die Einkaufsabteilungen alle Hände voll zu tun, um die Versorgung der Produktion sicherzustellen. Was würden Sie in dieser Situation empfehlen?

Meine Empfehlung der Stunde lautet: Bilden Sie eine Task Force. Darunter verstehe ich ein abteilungs- übergreifendes Team, das sich jeden Tag eine Stunde zusammensetzt und gemeinsam Ideen zur Materialversorgung entwickelt. Aus jeder Abteilung: Einkauf, Disposition, Fertigungssteuerung, Produktion und Vertrieb. Gemeint ist keine Runde von Führungskräften, sondern Mitarbeiter, die mit der Tagesarbeit betraut sind. Nach dem Brainstorming trägt jeder die Ideen in seine Abteilung. Selbstverständlich benötigt die Task Force umfassende Entscheidungskompetenz. Nur durch Verantwortung gelangt man zu guten Ergebnissen.

Die Task Force entwickelt eine gute Idee. Was genau geschieht dann damit, wer setzt sie um?

Die Task Force bündelt Kompetenzen, um losgelöst von den organisationsüblichen Prozessen ein Problem in einem festgelegten Zeitraum zu lösen. Am Anfang ist die Begeisterung immer groß. Die einzelnen Abteilungen setzen motiviert die Ideen in die Tat um. Und da alle an einem Strang ziehen, werden rasch erste Erfolge
erzielt. Ist das Problem bewältigt, wird die Task Force aufgelöst, auch um nicht länger hierfür Personal zu binden und Kosten zu verursachen. Gegenseitiges Schulterklopfen und ab mit den guten Ideen in die Schublade − das ist meist das unrühmliche Ende ihrer Erfolge.
Damit ein Unternehmen langfristig von den Ergebnissen der Task Force profitiert, wird die volle Unterstützung der Geschäftsführung benötigt. Aus Fehlern zu lernen bedeutet unter Umständen, die Strukturen und Prozesse tiefgreifend zu verändern. Werden die richtigen Konsequenzen aus der Bewältigung der Krise gezogen, hat sich der Einsatz der Task Force auch nachhaltig für ein Unternehmen gelohnt.

Das Interview ist erschienen in der Ausgabe 13 des MBI Einkäufer im Markt am 01.07.2021


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